Erzählungen und Gedichte.
45
König hörte auch davon, glaubte es nicht und liess das Büblein kommen.
Da sprach er zu ihm: „Kannst du mir auf drei Fragen, die ich dir vor-
legen will, Antwort geben, so will ich dich halten wie mein eigen Kind,
und du sollst bei mir in meinem königlichen Schlosse wohnen.“ Sprach
das Büblein: „Wie lauten die drei Fragen?“
Der König sagte: „Die erste lautet: wie viel Tropfen Wasser
sind in dem Weltmeer?“ Das Hirtenbüblein antwortete: „Herr König,
lasst alle Flüsse auf der Erde verstopfen, damit kein Tröpflein mehr
daraus ins Meer läuft, das ich nicht erst gezählt habe, so will ich Euch
sagen, wie viele Tropfen im Meere sind.“ Sprach der König: „Die
andere Frage lautet: wie viel Sterne stehen am Himmel?“ Das
Hirtenbübchen sagte: „Gebt mir einen grossen Bogen weifses Papier!“
und dann machte es mit der Feder so viele feine Punkte darauf, dass
sie kaum zu sehen waren und einem die Augen vergingen, wenn man
darauf blickte. Darauf sprach es: „So viele Sterne stehen am Himmel
als hier Punkte auf dem Papier; zählt sie nur!“ Aber niemand war
dazu im stände. Sprach dar König: „Die dritte Frage lautet: wie
viel Sekunden hat die Ewigkeit?“ Da sagte das Hirtenbüblein: „In
Hinterpommern liegt der Demantberg, der hat eine Stunde in die Höhe,
eine Stunde in die Breite und eine Stunde in die Tiefe; dahin kommt
alle hundert Jahre ein Yöglein und wetzt sein Schnäblein dran, und
wenn der ganze Berg abgewetzt ist, dann ist die erste Sekunde der
Ewigkeit vorbei.“
Da sprach der König: „Du hast die drei Fragen aufgelöst wie
ein Weiser und sollst fortan bei mir in meinem königlichen Schlosse
wohnen, und ich will dich halten wie mein eigen Kind.“ Gebr. Grimm.
57. (147.) Die Sonne bringt es an den Tag.
1. Gemächlich in der Werkstatt saß
zum Frühtrunk Meister Nikolas.
Die junge Hausfrau schenkt' ihm ein;
es war im heitern Sonnenschein. —
Die Sonne bringt es an den Tag.
2. Die Sonne blinkt von der Schale Rand,
malt zitternde Kringel an die Wand;
und wie den Schein er ins Auge faßt,
so spricht er für sich, indem er erblaßt:
„Du bringst es doch nicht an den Tag."
3. „Wer nicht? was nicht?" die Frau fragt gleich;
„was stierst du so an? was wirst du so bleich?"
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TM Hauptwörter (100): [T77: [Baum Nacht Himmel Wald Tag Gott Kind Vogel Sonne Blume], T45: [Kind Lehrer Wort Schüler Buch Unterricht Schule Frage Buchstabe Zeit], T17: [Gott Herr Mensch Wort Leben Herz Welt Hand Vater Himmel], T12: [Wasser Luft Erde Höhe Körper Fuß Dampf Bewegung Druck Gewicht], T81: [Sonne Erde Tag Mond Himmel Nacht Stern Zeit Licht Stunde]]
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in Familie, Gemeinde und Staat.
159
In wenig Tagen waren alle neu oder doch anständig ausgerüstet. Ein guter
Mensch, auch wenn er in Nöten ist, mißbraucht niemals fremde Gutmütig-
keit; deswegen sagten zu ihm die rheinländischen Hausfreunde: „Herr
Landsmann, verrechnet Euch nicht! Ein Kriegsgefangener bringt keine
Münze mit. So wissen wir auch nicht, wie wir Euch für Eure großen
Auslagen werden schadlos halten können und wann." Darauf erwiderte der
Schneider: „Ich finde hinlängliche Entschädigung in dem Gefühl, Ihnen
helfen zu können. Benutzen Sie alles, was ich habe. Sehen sie mein
Haus und meinen Garten als den Ihrigen an!" so kurz weg und ab,
wie ein Kaiser oder König spricht, wenn, eingefaßt in Würde, die Güte
hervorblickt. Denn nicht nur die hohe fürstliche Geburt und Großmut
sondern auch die liebe häusliche Demut giebt, ohne es zu wissen, bisweilen
den Herzen königliche Sprüche ein, Gesinnungen ohnehin. Jetzt führte er
sie freudig wie ein Kind in der Stadt bei seinen Freunden umher und
machte Staat mit ihnen. Doch hier ist jetzt nimmer Zeit und Raum genug,
alles Gute zu rühmen, was er seinen Freunden erwies. So sehr sie zu-
frieden waren, so wenig war er es. Jeden Tag fand er neue Mittel, ihnen
den unangenehmen Zustand der Kriegsgefangenschaft zu erleichtern und das
fremde Leben in Asien angenehm zu machen. War in der lieben Heimat
ein hohes Geburts- oder Namensfest, es wurde am nämlichen Tage von den
Treuen auch in Asien mit Gastmahl, mit Vivat und Freudenfeuer gehalten,
nur etwas früher, weil dort die Uhren falsch gehen. Kam eine frohe Nach-
richt von dem Vorrücken und dem Siege der hohen Verbündeten in Deutsch-
land an, der Schneider war der erste, der sie wußte und seinen Kindern,
— er nannte sie nur noch seine Kinder, — mit Freudenthränen zubrachte,
darum daß sich ihre Erlösung nahte. Als einmal Geld zur Unterstützung der
Gefangenen aus dem Vaterlande ankam, war ihre erste Sorge, ihrem Wohl-
thäter seine Auslagen zu vergüten. „Kinder", sagte er, „verbittert mir meine
Freude nicht!" — „Vater Egetmaier", sagten sie, „thut unserm Herzen nicht
wehe!" Also machte er ihnen zum Schein eine kleine Rechnung, nur um
sie nicht zu betrüben, und um das Geld wieder zu ihrem Vergnügen anzu-
wenden, bis die letzte Kopeke aus den Händen war. Das gute Geld wäre für
einen andern Gebrauch zu bestimmen gewesen; aber man kann nicht an alles
denken. Denn als endlich die Stunde der Erlösung schlug, gesellte sich zur
Freude ohne Maß der bittere Schmerz der Trennung und zu dem bittern
Schmerz die Not. Denn es fehlte an allem, was zur Notdurft und zur
Vorsorge auf eine so lange Reise in den Schrecknissen des russischen Winters
und einer unwirtbaren Gegend nötig war; und ob auch auf den Mann,
solange sie durch Rußland zu reisen hatten, täglich 13 Kreuzer verabreicht
wurden, so reichte doch das wenige nirgends hin. Darum ging in diesen
letzten Tagen der Schneider, sonst so frohen, leichten Mutes, still und nach-
TM Hauptwörter (50): [T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand], T5: [Haus Tag Kind Hand Herr Tisch Mann Fenster Wagen Pferd]]
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170
Iii. Geiwinschafts- und Berufsleben
denn nicht, dich verbinden zu lassen?“ fuhr Elliot fort. „Weil es in
Deutschland,“ antwortete der Soldat, „nicht erlaubt ist, seinen Posten
eher zu verlassen, als bis man abgelöst wird.“ Da stieg der General
augenblicklich vom Pferde und sagte: „Gieb mir dein Gewehr und deine
Patronentasche; ich will dich ablösen, damit du dich verbinden lassen
kannst.“ Der Soldat gehorchte, ging aber zuvor an die nächste Wache,
zeigte an, dass der General auf dem Posten stünde, und liess dann erst
seine verstümmelte Hand verbinden.
Weil er zu ferneren Kriegsdiensten nicht mehr tüchtig war, ward
der Soldat verabschiedet und erhielt von dem General, der den Vorfall
nach London berichtet hatte, ein ansehnliches Geschenk. Als er in der
Hauptstadt von England ankam, verlangte ihn der König Georg zu sehen.
Da er diesem vorgestellt wurde, unterredete sich der König mit ihm,
beschenkte ihn reichlich und machte ihn zum Offizier.
193. Der
1. Es geht bei gedämpfter Trommel Klang;
wie weit noch die Stätte, der Weg wie lang!
O wär' er zur Ruh' und alles vorbei!
ich glaub', es bricht mir das Herz entzwei.
2. Ich hab' in der Welt nur ihn geliebt,
nur ihn, dem jetzt man den Tod doch giebt.
Bei klingendem Spiele wird paradiert;
dazu bin auch ich, auch ich kommandiert.
3. Nun schaut er auf zum letzten Mal
in Gottes Sonne freudigen Strahl, —
nun binden sie ihm die Augen zu; —
dir schenke Gott die ewige Ruh'!
4. Es haben die neun wohl angelegt.
Acht Kugeln haben vorbeigefegt;
sie zitterten alle vor Jammer und Schmerz, —
ich aber, ich traf ihn mitten ins Herz.
Chamisso.
194. (206.) Der Riese Goliath.
1. War einst ein Riese Goliath, gar ein gefährlich Mann;
er hatte Tressen auf dem Hut mit einem Klunker dran
und einen Rock von Golde schwer.
Wer zählt die Dinge alle her?
2. Auf seinen Schnurrbart sah man nur mit Gräsen und mit Graus;
und dabei sah er von Natur gar wild und grimmig aus.
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TM Hauptwörter (200): [T65: [König Herr Soldat Offizier Vater Prinz Friedrich Majestät General Brief], T51: [Kind Himmel Nacht Sonne Tag Gott Wald Baum Blume Feld], T155: [Soldat Krieg Heer Land Mann Truppe König Waffe Geld Feind], T59: [Tod Leben Volk Herz Freund Mann Wort König Tag Feind], T112: [Schwert Ritter Schild Waffe Lanze Pferd Speer Hand Helm Pfeil]]
Extrahierte Personennamen: Georg Chamisso
Extrahierte Ortsnamen: Deutschland London England Gottes
182
Iii. Gemeinschasts- und Berufsleben
203. (140.) Der kluge Richter.
Ein reicher Mann hatte eine beträchtliche Geldsumme, die in ein Tuch
eingenäht war, aus Unvorsichtigkeit verloren. Er machte daher seinen Ver-
lust bekannt und bot, wie man zu thun pflegt, dem ehrlichen Finder eine
Belohnung, und zwar von hundert Thalern, an. Da kam bald ein guter
und ehrlicher Mann dahergegangen. „Dein Geld habe ich gefunden; dies
wird's wohl sein. So nimm dein Eigentum zurück!" so sprach er mit dem
heiteren Blick eines ehrlichen Mannes und eines guten Gewissens; und das
war schön. Der andere machte auch ein fröhliches Gesicht, aber nur, weil
er sein verloren geschätztes Geld wieder hatte; denn wie es um seine Ehr-
lichkeit aussah, das wird sich bald zeigen: Er zählte das Geld und dachte
unterdessen geschwind nach, wie er den treuen Finder um die versprochene
Belohnung bringen könnte. „Guter Freund!" sprach er hierauf, „es waren
eigentlich achthundert Thaler in das Tuch eingenäht; ich finde aber nur noch
siebenhundert Thaler. Ihr werdet also wohl eine Naht aufgetrennt und
Eure hundert Thaler Belohnung schon herausgenommen haben. Da habt
Ihr wohl daran gethan. Ich danke Euch." Das war nicht schön; aber wir
sind auch noch nicht am Ende. Ehrlich währt am längsten, und Unrecht
schlägt seinen eigenen Herrn.
Der ehrliche Finder, dem es weniger um die hundert Thaler als um
seine unbescholtene Rechtschaffenheit zu thun war, versicherte, daß er das
Päcklein so gefunden habe, wie er es bringe, und es so bringe, wie er es
gefunden habe. Am Ende kamen sie vor den Richter. Beide bestanden auch
hier noch auf ihrer Behauptung: der eine, daß achthundert Thaler eingenäht
gewesen seien, der andere, daß er von dem Gefundenen nichts genommen und
das Päcklein nicht versehrt habe. Da war guter Rat teuer. Aber der kluge
Richter, der die Ehrlichkeit des einen und die schlechte Gesinnung des andern
zum voraus zu kennen schien, griff die Sache so an: Er ließ sich von beiden
über das, was sie aussagten, eine feste und feierliche Versicherung geben und
that hierauf folgenden Ausspruch: „Demnach, wenn der eine von euch acht-
hundert Thaler verloren, der andere aber nur ein Päcklein mit siebenhun-
dert Thalern gefunden hat, so kann auch das Geld des letzteren nicht das
nämliche sein, worauf der erstere ein Recht hat. Du, ehrlicher Freund,
nimmst also das Geld, das du gefunden hast, wieder zurück und behältst
es in guter Verwahrung, bis der kommt, der nur siebenhundert Thaler
verloren hat. Und dir da weiß ich keinen Rat, als du geduldest dich, bis
derjenige sich meldet, der deine achthundert Thaler findet." So sprach der
Richter, und dabei blieb es. Hebel.
204. (142.) Der Junker und der Bauer.
1. Ein Bauer trat mit dieser Klage
vor Junker Alexander hin:
TM Hauptwörter (50): [T39: [Jahr Million Geld Mark Arbeiter Arbeit Zeit Summe Staat Thaler], T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand], T5: [Haus Tag Kind Hand Herr Tisch Mann Fenster Wagen Pferd]]
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Sage und Geschichte.
279
auf Straßburgs Wällen die deutsche Fahne wieder wehte, an welchem 189
Jahre zuvor durch einen unerhörten Gewaltstreich unsere Nachbaren im
Westen dem deutschen Reiche diesen Edelstein aus seiner Krone gebrochen hatten.
276. Prinz Eugen.
1. Prinz Eugen, der edle Ritter,
wollt' dem Kaiser wiederum kriegen
Stadt und Festung Belgarad.
Er ließ schlagen einen Brucken,
daß man konnt' Hinüberrucken
mit der Armee wohl vor die Stadt.
2. Als der Brucken nun war geschlagen,
daß man konnt' mit Stück und Wagen
frei passter'n den Donaufluß:
bei Semlin schlug man das Lager,
alle Türken zu verjagen,
ihnen zum Spott und zum Verdruß.
3. Am einundzwanzigsten August so eben
kam ein Spion bei Sturm und Regen,
schwur's dem Prinzen und zeigt's ihm an,
daß die Türken futragieren,
so viel als man könnt' verspüren,
an die dreimal hunderttausend Mann.
4. Als Eugenjus dies vernommen,
ließ er gleich zusammenkommen
sein' General' und Feldmarschall';
er thät sie recht instruieren,
wie man sollt' die Truppen führen
und den Feind recht greifen an.
5. Bei der Parole thät er befehlen,
daß man sollt' die Zwölfe zählen
bei der Uhr um Mitternacht;
da sollt' all's zu Pferd aufsitzen,
mit dem Feinde zu scharmützen,
was zum Streit nur hätte die Kraft.
6. Alles saß auch gleich zu Pferde,
jeder griff nach seinem Schwerte,
ganz still rückt' man aus der Schanz';
die Musketier' wie auch die Reiter
thäten alle tapfer streiten:
's war fürwahr ein schöner Tanz.
7. Ihr Konstabler auf der Schanzen,
spielet auf zu diesem Tanzen
mit Kartaunen groß und klein;
mit den großen, mit den kleinen
auf die Türken, auf die Heiden,
daß sie laufen alle davon!
8. Prinz Eugenjus wohlaufderrechten
thät als wie ein Löwe fechten
als General und Feldmarschall.
Prinz Ludwig ritt auf und nieder:
„Halt't euch brav, ihr deutschen Brüder,
greift den Feind nur herzhaft an!"
9. Prinz Ludwig der mußt' aufgeben
seinen Geist und junges Leben,
ward getroffen von dem Blei.
Prinz Eugen war sehr betrübet,
weil er ihn so sehr geliebet;
ließ ihn bringen nach Peterwardein.
Don einem Brandenburger, der dabei war.
277. (261.) Friedrich Wilhelm I und der westfälische Klotz.
1. Der König kommt, zu halten
Heerschau im Soester Feld,
und hat den Klotz, den alten,
aufs Rathaus gleich bestellt:
„Sprecht, wollt Ihr den Soldaten
öffnen Eu'r Waisenhaus?
Laßt Euch im guten raten:
ich will's, damit ist's aus!"
2. Als Unterthan bescheiden
spricht da Herr Klotz gar bald:
„Wir werden, Herr, es leiden,
denn Eu'r ist die Gewalt;
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TM Hauptwörter (200): [T121: [Feind Reiter Pferd Heer Mann Flucht Lager Soldat Seite Reiterei], T81: [Herz Himmel Gott Welt Lied Leben Auge Erde Land Nacht], T65: [König Herr Soldat Offizier Vater Prinz Friedrich Majestät General Brief], T88: [Türke Ungarn Krieg Rußland Kaiser Sultan Wien Jahr Frieden Polen], T156: [Schlacht Sieg Feind Heer König Mann Kampf Tag Tapferkeit Franzose]]
Extrahierte Personennamen: Eugen Eugen Eugen Eugen August Eugenjus Ludwig Ludwig Ludwig Ludwig Eugen Eugen Friedrich_Wilhelm Friedrich Wilhelm
Sage und Geschichte.
285
Husar hatte ein Lied aufgeschlagen und sagte nun in einem weit milderen
Tone: „Wie schön leuchtet der Morgenstern! spiel' Er das, lieber Schul-
meister, aber so recht fein und ordentlich! Er versteht mich wohl."
Ich spielte mit Herzenslust, und nach geendetem Vorspiel fiel der
Husar mit seiner tiefen Baßstimme ein; meine Frau hinter der Orgel und
ich thaten ein gleiches. Mein Herz wurde so mutig, daß ich mich oft nach
meinem Zuhörer umschaute und ihm ganz dreist in das Gesicht sah. Er
sang mit großer Andacht, hatte die Hände gefaltet, und die hellen Thränen
fielen über den eisgrauen Knebelbart auf das Buch hinab.
Jetzt war das Lied beendet; ich ging auf ihn zu; er schüttelte mir
recht treuherzig die Hand und sprach: „Großen Dank, Herr Kantor! Wo ist
der Gotteskasten?" Mein früherer Argwohn, daß es auf Plünderung ab-
gesehen sei, war nun gänzlich verschwunden. Ich holte unsere Armenbüchse,
und der Husar warf ein Achtgroschenstück hinein. „Wir beide aber, wir
teilen den Rest, Herr Schulmeister!" sagte er dann, indem er noch zwei
Achtgroschenstücke aus der Tasche zog, „da, nehm' Er das eine für Seine
Mühe!" Ich schlug es aus; aber er war so ungestüm, daß ich es schlechter-
dings nehmen mußte. „Nehm' Er, nehm' Er," sprach er, „es klebt kein
Blut daran!"
Jetzt verließ er das Gotteshaus, und wir begleiteten ihn. Sowohl
meine Frau als ich waren unglaublich bewegt; und ich konnte mich nicht
enthalten, unsern wunderlichen Gast auf dem Kirchhofe zu fragen, wie ihm
denn der Gedanke gekommen sei, hier seine Morgenandacht zu halten. „Das
will ich euch wohl sagen, ihr lieben Leute!" antwortete er, indem er uns
beide bei der Hand nahm. „Gestern Abend sollte ein verlorener Posten
ausgestellt werden, um mitten unter den umherschweifenden Streifwachen den
Feind auf einem gewissen Punkte zu beobachten. Jeder von uns wußte, was
die Sache auf sich hatte; — wir sind seit einigen Wochen brav daran ge-
wesen. Unser Rittmeister fragte nach Freiwilligen; niemand bezeigte Lust.
Endlich ritt ich vor, und meine drei Jungen konnten ja wohl den alten
Vater nicht allein lassen. — Er braucht es nicht zu wissen, Herr Schul-
meister, wie wir es anfingen; genug, wir schlichen uns durch und hielten
die ganze Nacht auf einer buschigen Anhöhe. Links und rechts blitzte es um
uns her; wir sahen bald hier bald dort feindliche Mannschaften. Nicht
meinetwegen, — denn wie lange werde ich noch reiten? — sondern nur
wegen meiner Söhne seufzte ich in der finstern Nacht: Herr, erhalt uns! —
Kaum hatte ich es heraus, als es zu dämmern anfing und der Morgenstern
mir ins Auge blitzte. Wie schön leuchtet der Morgenstern! fiel mir in
diesem Augenblicke aus meiner Jugendzeit ein. Gar manches, was ich seit-
dem gethan, und — was wohl nicht allemal recht war, hängte sich wie
eine Bleilast daran. Ich rechnete nach, seit wie viel Jahren ich in keine
TM Hauptwörter (50): [T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand], T5: [Haus Tag Kind Hand Herr Tisch Mann Fenster Wagen Pferd]]
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Sage und Geschichte.
287
dann drückt mich Müh’ den ganzen
Tag,
dass meine Kinder gross und klein
sich ihrer Feierstunde freu’n !“
Gewiss, so hat der Held gedacht;
er hat sein Denken wahr gemacht.
Drum, wo man Gutes liebt und ehrt,
sein Angedenken ewig währt;
und jedes Kindlein ehrfurchtsvoll
den Edlen kennen lernen soll.
Fröhlich.
283. (262 a.) König Friedrich und sein Nnchhnr.
Der König Friedrich Ii von Preußen hatte acht Stunden von Berlin
ein schönes Lustschloß und war gern darin, wenn nur nicht ganz nahe dabei
die unruhige Mühle gewesen wäre. Denn erstens stehen ein königliches Schloß
und eine Mühle nicht gut neben einander, obgleich das Weißbrot auch in dem
Schlosse nicht übel schmeckt, wenn die Mühle fein gemahlen und der Ofen
wohl gebacken hat. Außerdem aber, wenn der König in seinen besten Ge-
danken war und nicht an den Nachbar dachte, auf einmal ließ der Müller
seine Mühle klappern und dachte auch nicht an den Herrn Nachbar; und die
Gedanken des Königs störten zwar das Räderwerk der Mühle nicht, aber
manchmal das Klapperwerk der Räder die Gedanken des Königs. Eines Tages
ließ er den Müller zu sich kommen. „Ihr begreift," sagte er zu ihm, „daß
wir zwei nicht neben einander bestehen können. Einer muß weichen. Was
gebt Ihr mir für mein Schlößlein?" Der Müller sagte: „Wie hoch haltet
Ihr es, königlicher Herr Nachbar?" Der König erwiderte ihm: „Wunderlicher
Mensch, so viel Geld habt Ihr nicht, daß Ihr mein Schloß kaufen könnt.
Wie hoch haltet Ihr Eure Mühle?" Der Müller erwiderte: „Gnädigster Herr,
so habt Ihr auch nicht so viel Geld, daß Ihr mir meine Mühle abkaufen könnt.
Sie ist mir nicht feil." Der König that gern ein Gebot, auch das zweite
und dritte, aber der Nachbar blieb bei seiner Rede: „Sie ist mir nicht feil.
Wie ich darin geboren bin, so will ich darin sterben, und wie sie mir von
meinem Vater erhalten worden ist, sollen sie meine Nachkommen von mir
erhalten und auf ihr den Segen ihrer Vorfahren ererben." Da nahm der
König eine ernsthaftere Sprache an. „Wißt Ihr auch, guter Mann, daß ich
gar nicht nötig habe, viele Worte zu machen? Ich lasse Eure Mühle schätzen
und breche sie ab. Nehmt alsdann das Geld oder nicht!" Da lächelte der
unerschrockene Müller und erwiderte dem König: „Gut gesagt, allergnädigster
Herr, wenn nur das Kammergericht zu Berlin nicht wäre!" — nämlich, daß
er es wollte auf einen richterlichen Ausspruch ankommen lassen. Der König
Der ganze Ghor fiel jubelnd ein:
„Der alte Fritz will König sein
und weiss nicht mal, dass dieser Frist
des Mittwochs keine Schule ist!“ —
Der König stille vor sich lacht
und hat in seinem Sinn gedacht:
„Wie reich bist, liebe Einfalt, du!
Ich alter Mann hab’ keine Ruh’;
des Morgens ruft mich Sorge wach;
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Extrahierte Personennamen: Friedrich Friedrich Friedrich_Ii_von_Preußen Friedrich
in Familie, Gemeinde und Staat.
141
6. Und hätte selbst das Mutterherz für dich gesorget noch so wenig,
das Wen'ge scbst vergiltst du nie, und wärest du der reichste König.
Die größten Opfer sind gering für das, was sie für dich gegeben;
und hätte sie vergessen dich, so schenkte sie dir doch das Leben.
7. Und hast du keine Mutter mehr, und kannst du sie nicht mehr beglücken,
so kannst du doch ihr frühes Grab mit frischen Blumenkränzen schmücken.
Ein Muttergrab ein heilig Grab, für dich die ewig heil'ge Stelle.
O wende dich an diesen Ort, wenn dich umtost des Lebens Welle!
Kaulisch.
158. (129.) Ein guter Sohn.
In dem Regiments des berühmten, von Friedrich dem Großen hoch
geehrten Generals von Zieten stand auch ein Rittmeister mit Namen Kurz-
hagen, dessen Eltern arme Landleute im Mecklenburgischen waren. Ec war
klug und tapfer und besaß dabei ein kindliches Gemüt. Mit dem Verdienst-
orden auf der Brust rückte er nach Beendigung des siebenjährigen Krieges
in Parchim ein. Die Eltern waren von ihrem Dörfchen nach der Stadt
gekommen, um ihren Sohn nach Jahren wiederzusehen, und erwarteten ihn
auf dem Markte. Sowie er sie erkannte, sprang er rasch vom Pferde und
umarmte sie unter Freudenthränen. Bald darauf mußten sie zu ihm ziehen
und aßen allezeit mit an seinem Tische, auch wenn er vornehme Gäste hatte.
Einst spottete ein Offizier darüber, daß Bauern bei einem Rittmeister
zu Tische säßen. „Wie sollte ich nicht die ersten Wohlthäter meines Lebens
dankbar achten?" war seine Antwort. „Ehe ich des Königs Rittmeister
wurde, war ich ihr Kind."
Der General von Zieten hörte von diesem Vorfall und lud sich selbst
nach einiger Zeit mit mehreren vornehmen Herren bei dem Rittmeister zu Gaste.
Die Eltern Kurzhagens wünschten diesmal selbst, nicht am Tische zu erscheinen,
weil sie sich verlegen fühlen würden. Als man sich setzen wollte, fragte der
General: „Aber, Kurzhagen, wo sind Ihre Eltern? Ich denke, sie essen mit
Ihnen an einem Tische?" Der Rittmeister lächelte und wußte nicht sogleich
zu antworten. Da stand Zieten auf und holte die Eltern selbst herbei; sie
mußten sich rechts und links an seine Seite setzen, und er unterhielt sich mit
ihnen aufs freundlichste. Als man anfing, Gesundheiten auszubringen, nahm
er sein Glas, stand auf und sprach: „Meine Herren, es gilt dem Wohlergehen
dieser braven Eltern eines verdienstvollen Sohnes, der es beweist, daß ein
dankbarer Sohn mehr wert ist als ein hochmütiger Rittmeister!"
Später fand der General Gelegenheit, dem Könige von der kindlichen
Achtung zu erzählen, die der Rittmeister seinen Eltern erwies, und Friedrich Ii
freute sich sehr darüber. Als Kurzhagen einmal nach Berlin kam, wurde er
zur königlichen Tafel gezogen. „Hör' Er, Rittmeister," fragte der König,
um seine Gesinnung zu erforschen, „von welchem Hause stammt Er denn
TM Hauptwörter (50): [T33: [Kind Vater Mutter Frau Mann Jahr Sohn Gott Haus Eltern], T5: [Haus Tag Kind Hand Herr Tisch Mann Fenster Wagen Pferd], T12: [König Paris Jahr Napoleon General Frankreich Mann Tag Kaiser Minister]]
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Extrahierte Personennamen: Friedrich_dem_Großen Friedrich Friedrich_Ii Friedrich
160
Itl. Gemeinschaft?- und Berufsleben
deutlich umher, als der etwas im Sinne hat, und war wenig mehr zu Hause.
„Es geht ihm recht zu Herzen", sagten die rheinländischen Herren Haus-
freunde und merkten nichts. Aber auf einmal kam er mit großen Freuden-
schritten, ja mit verklärtem Antlitz zurück: „Kinder, es ist Rat! Geld
genug!" — Was war's? Die gute Seele hatte für zweitausend Rubel das
Haus verkauft. „Ich will schon eine Unterkunft finden", sagte er, „wenn
nur ihr ohne Leid und Mangel nach Deutschland kommt." O du heiliges,
lebendig gewordenes Sprüchlein des Evangeliums und seiner Liebe: „Ver-
kaufe, was du hast, und gieb es den Armen, so wirst du einen Schatz im
Himmel haben." Der wird einst weit oben rechts zu erfragen sein, wenn
die Stimme gesprochen hat: „Kommet her, ihr Gesegneten meines Vaters!
Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich gespeist; ich bin nackend ge-
wesen, und ihr habt mich bekleidet; ich bin krank und gefangen gewesen,
und ihr seid zu mir gekommen." Doch der Kauf wurde zu großem Trost
für die edlen Gefangenen wieder rückgängig gemacht. Nichtsdestoweniger
brachte er auf andere Art noch einige hundert Rubel für sie zusammen und
nötigte sie, was ec von kostbarem russischem Pelzwerk hatte, mitzunehmen,
um es unterwegs zu verkaufen, wenn sie Geldes bedürftig wären oder einem
ein Unglück widerführe.
Den Abschied will ich nicht beschreiben. Keiner, der dabei war, ver-
mag es. Sie schieden unter tausend Segenswünschen und Thränen des
Dankes und der Liebe; und der Schneider gestand, daß dieses für ihn der
schmerzlichste Tag seines Lebens sei. Die Reisenden aber sprachen unter-
wegs unaufhörlich und noch immer von ihrem Vater in Pensa; und als sie
in Bialystock in Polen wohlbehalten ankamen und Geld antrafen, schickten
sie ihm dankbar das vorgeschossene Reisegeld zurück. Hebci.
182. (207.)
1. Im Feld der König Salomon
schlägt unterm Himmel auf den Thron;
da sieht er einen Sämann schreiten,
der Körner wirft nach allen Seiten.
2. „Was machst du da?" der König
spricht,
„der Boden hier trägt Ernte nicht.
Laß ab vom thörichten Beginnen;
du wirst die Aussaat nicht gewinnen."
Parabel.
3. Der Sämann, seinen Arm gesenkt,
unschlüssig steht er still und denkt;
dann fährt er fort, ihn rüstig hebend,
dem weisen König Antwort gebend:
4. „Ich habe nichts als dieses Feld;
geackert hab' ich's und bestellt.
Was soll ich weitre Rechnung pflegen?
Das Korn von mir, von Gott der
Segen."
Rückert.
183. (241 a.) Das Riesenspielzeug.
1. Burg Niedeck ist im Elsaß der Sage wohlbekannt,
die Höhe, wo vorzeiten die Burg der Riesen stand.
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in Familie, Gemeinde und Staat.
197
16. Und rings statt duft'ger Gärten ein ödes Heideland;
kein Baum verstreuet Schatten, kein Quell durchdringt den Sand;
des Königs Namen meldet kein Lied, kein Heldenbuch. —
Versunken und vergessen! — das ist des Sängers Fluch, uhiand.
216. (169.) Seid Ihr der König oder der Bauer?
Es ist nichts lieblicher, als wenn bisweilen gekrönte Häupter sich
unerkannt zu dem gemeinen Manne herablassen wie König Heinrich Iy
von Frankreich, sei es auch nur zu einem gutmütigen Spasse.
Zu König Heinrichs Iy Zeiten ritt ein Bäuerlein vom Lande her
des Yfeges nach Paris. Nicht mehr weit von der Stadt gesellte sich
zu ihm ein anderer, gar stattlicher Reiter, welches der König war; und
sein kleines Gefolge blieb absichtlich in einiger Entfernung zurück.
„Woher des Landes, guter Freund?" — „Da und da her.“ — „Ihr
habt wohl Geschäfte in Paris?“ — „Ja, das und das; auch möchte ich
gern unsern guten König einmal sehen, der so väterlich sein Volk liebt."
Da lächelte der König und sagte: „Dazu kann Euch heute Gelegenheit
werden.“ — „Aber wenn ich nur auch wüsste, welcher es ist unter den
vielen, wenn ich ihn sehe!“ Der König antwortete: „Dafür ist Rat.
Ihr dürft nur achtgeben, wer den Hut allein auf dem Kopfe behält,
wenn die andern ehrerbietig ihr Haupt entblöfsen.“
Also ritten sie mit einander in Paris ein, und zwar das Bäuerlein
auf der rechten Seite des Königs. Denn das kann nie fehlen : was die
liebe Einfalt Ungeschicktes thun kann, sei es gute Meinung oder Zufall,
das thut sie. Aber ein gerader und ungekünstelter Bauersmann, was der
thut und sagt, das thut und sagt er mit ganzer Seele und sieht nicht um
sich, was geschieht, wenn’s ihn nichts angeht. Also gab auch der unsrige
dem Könige auf seine Fragen nach dem Landbau, nach seinen Kindern,
und ob er auch alle Sonntage ein Huhn im Topfe habe, gesprächige
Antwort und merkte lange nichts.
Endlich aber, als er doch sah, wie sich alle Fenster öffneten und
alle Strassen sich mit Leuten füllten und alles rechts und links auswich
und ehrerbietig das Haupt entbleist hatte, ging ihm ein Licht auf.
„Herr!“ sagte er und schaute seinen unbekannten Begleiter mit Be-
denklichkeit und Zweifel an, „entweder seid Ihr der König oder ich
bin’s; denn wir zwei haben noch allein den Hut auf dem Kopf.“ Da
lächelte der König und sagte: „Ich bin’s. Wenn Ihr Euer Röfslein ein-
gestellt und Eure Geschäfte besorgt habt, so kommt zu mir in mein
Schloss. Ich will euch alsdann mit einem Mittagssüpplein aufwarten
und Euch auch meinen Ludwig zeigen.“
Von dieser Geschichte rührt das Sprichwort her, wenn jemand in
einer Gesellschaft aus Vergessenheit oder Unverstand den Hut allein
auf dem Kopfe behält, dass man ihn fragt: „Seid Ihr der König oder
der Bauer?“ „
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Extrahierte Personennamen: Heinrich_Iy
von_Frankreich Heinrich Heinrichs_Iy Heinrichs Ludwig Ludwig